VhU-Positionspapier Juni 2023
Sozialleistungsmissbrauch – Fehlverhalten im Sozialwesen effektiver bekämpfen
Vorbemerkung
Der Sozialbereich hat insgesamt eine Größenordnung von einer Billion Euro jährlich erreicht. Das ist fast ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung Deutschlands. Gleichzeitig werden durch Sozialleistungsmissbrauch jedes Jahr hohe Milliardenbeträge zweckentfremdet und dem Sozialsystem entzogen. Allein im Gesundheitsbereich gehen Schätzungen von 20 Milliarden Euro aus. Könnten wir Missbrauch verhindern, würde der Gesamtsozialversicherungsbeitrag auf die wichtige Marke von unter 40 Prozent sinken. Das sichert Arbeitsplätze.
Klar ist auch, dass sich die übergroße Mehrheit rechtmäßig verhält – also Leistungserbringer wie etwa Ärzte und Apotheker, Pflegedienste und Sanitätshäuser, Betreiber von Kindergärten, Heimen und Beratungsstellen auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite die Bezieher dieser Leistungen, also etwa Patienten, Pflegebedürftige und deren Familienangehörige. Deshalb muss der Missbrauch von Sozialleistungen durch eine kleine Minderheit wirksam bekämpft werden. Auch Skandale wie zuletzt in Hessen bei der AWO Frankfurt und der AWO Wiesbaden machen deutlich, dass es im Milliardengeschäft um Sozialleistungen bei der Kontrolle noch zu amateurhaft zugeht.
Zusammenfassung
Überall dort, wo öffentliche Mittel eingesetzt werden, entstehen auch Anreize für Fehlverhalten und Missbrauch. Im Sozialwesen betrifft dies nicht nur Leistungsempfänger, sondern auch einzelne Leistungserbringer, so etwa Pflegedienste und -heime, Sozialverbände, Ärzte und Apotheker, Krankenhäuser oder Heilmittelerbringer.
Öffentliches Geld braucht öffentliche Kontrolle. Sonst drohen Korruption, Abrechnungsbetrug und Leistungsmissbrauch. Diese untergraben das Vertrauen in den Sozialstaat und erhöhen die Lasten für Beitrags- und Steuerzahler. Nach Schätzungen summieren sich die Schäden durch Leistungsmissbrauch allein im Gesundheitswesen auf einen zweistelligen Milliardenbetrag (GKV-Spitzenverband 2022). Das Dunkelfeld ist extrem groß: mit einem festgestellten Schaden von rund 130 Mio. Euro kann geschätzt weniger als 1 Prozent der tatsächlichen Schadensumme im Gesundheitswesen ermittelt werden (GKV-Spitzenverband 2023; Bundeskriminalamt 2021).
Die Bekämpfung von Missbrauch und Betrug im Bereich von Sozialleistungen muss mit dem in den letzten Jahrzehnten stark gewachsenen Sozialstaat Schritt halten. Die Missbrauchsbekämpfung muss zukünftig genauso konsequent angegangen werden wie im Bereich der Finanzverwaltung. Es gibt keinen Grund, im Sozialbereich höhere Hürden aufzubauen.
Auf Bundesebene sollte die zusätzliche Einrichtung einer zentralen Bekämpfungsstelle geprüft werden, die für Steuerdelikte und Sozialleistungsmissbrauch zuständig ist. Dies sichert eine effektivere Bekämpfung, hebt das Thema ins öffentliche Bewusstsein und schreckt Täter ab.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen – insbesondere für den Datenaustausch und automatischen Datenabgleich – müssen auf Landes- und Bundesebene verbessert werden.
Auch in Hessen müssen die Behörden ihre Anstrengungen zur Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs weiter deutlich steigern.
Die Kommunen und kommunalen Jobcenter müssen vom Landesgesetzgeber verpflichtet werden, Daten zum Leistungsmissbrauch zu erheben und an das Statistische Landesamt zu übermitteln. Dies betrifft etwa auch die Erhebung von Missbrauchsdaten zu Sozialhilfe, Eingliederungshilfe oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Unter Beteiligung von Sozial- und Innenministerium sollte die Landesregierung mit den Behörden vor Ort ein behördenübergreifendes Konzept gegen Leistungsmissbrauch mit dem Ziel einer besseren Zusammenarbeit erarbeiten.
Die Befugnisse der Fehlverhaltensstellen der Krankenkassen zum Datenaustausch mit anderen Krankenkassen und Behörden müssen vom Bundesgesetzgeber erweitert werden. Der Bund sollte die Einrichtung einer bundesweiten und kassenübergreifenden Datenbank ermöglichen, die Fälle von strafbarem Fehlverhalten im Gesundheitswesen personenbezogen speichert. Zudem muss gesetzlich klargestellt werden, dass die Fehlverhaltensstellen auch auf eigene Initiative und anlassunabhängig tätig werden dürfen.
Die Pflegekassen müssen ihre Kontrollen bei der Leistungserbringung intensivieren. Hierzu müssen vom Bundesgesetzgeber mehr unangekündigte Kontrollen ermöglicht und digitale Abrechnungen verpflichtend gemacht werden.
Die Träger der Deutsche Rentenversicherung müssen konsequent den Missbrauch von Erwerbsminderungsrenten aufdecken und verhindern, indem sie konsequent Frühwarn- und Prüfsysteme einrichten und anwenden.
Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Landesärztekammer Hessen und das Sozialministerium als Aufsichtsbehörde müssen konsequenter darauf hinwirken, dass Ärzte Arbeitsunfähigkeitszeiten korrekt erfassen.
Land und Kommunen müssen sicherstellen, dass die Erbringer von Sozialleistungen, wie etwa die großen Wohlfahrtsverbände, bereits im „laufenden Geschäft“ geprüft werden. Die AWO-Skandale in Frankfurt und Wiesbaden haben hier großen Handlungsbedarf deutlich gemacht.
Die seit Jahren bekannte Missbrauchsmöglichkeit durch Beurkundung von Scheinvaterschaften Bleiberecht und Sozialleistungsbezug zu sichern, muss vom Bundesgesetzgeber beendet werden. Hingegen wäre eine staatliche Weigerung, eine bekannte und auch genutzte Missbrauchsmöglichkeit zu unterbinden, geeignet, die allgemeine Rechtstreue zu beeinträchtigen.
Schließlich muss auch die Schattenwirtschaft besser eingedämmt werden, einerseits durch effektive Kontrollen, vor allem aber durch Beseitigung der Ursachen, also zu hohe Lohnzusatzkosten, Bürokratie und Hürden bei der Beschäftigungsaufnahme.
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