Fragen und Antworten zur Schwerbehinderten­beschäftigung in Hessen

Fachkräftezuwanderung als notwendiger Baustein gegen Fachkräftemangel

Aktualisiert am: 09.05.2024 9 Min. Lesezeit

Fachkräftezuwanderung als notwendiger Baustein gegen Fachkräftemangel

  1. Wie ist die derzeitige Lage für Schwerbehinderte auf dem hessischen Arbeitsmarkt?

Hessen liegt mit einer Beschäftigungsquote von 4,9 Prozent im Ländervergleich in der Spitzengruppe (inkl. öffentlichem Dienst, 2021). Auch die privaten hessischen Unternehmen liegen mit einer Beschäftigungsquote von 4,5 % auf einem Spitzenplatz in Deutschland. Die Zahl schwerbehinderter Menschen bei beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern (also mit mind. 20 Arbeitsplätzen) ist im Laufe von nur 10 Jahren um rund 11.000 auf rund 103.000 Personen gestiegen. Hinzu kommen rund 17.500 schwerbehinderte Beschäftigte bei kleinen Arbeitgebern ohne Beschäftigungspflicht. Die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten sank von etwa 14.000 im Jahr 2014 auf rund 11.000 (März 2022). Zwar finden schwerbehinderte Menschen schwieriger in Arbeit als Menschen ohne Behinderung, allerdings waren sie in der Corona-Krise auch weniger stark von Arbeitslosigkeit betroffen.

  1. Welche Vorteile hat Inklusion für Unternehmen?

Nicht nur in Zeiten des Fachkräftemangels sind schwerbehinderte Arbeitnehmer eine wichtige Ressource für Unternehmen. Eine Studie des IW Köln aus dem Jahr 2021 zeigt, dass arbeitslose Schwerbehinderte tendenziell besser qualifiziert sind als Arbeitslose ohne Schwerbehinderung. Schwerbehinderte Arbeitnehmer sind – falls erforderlich mit technischen Hilfsmitteln – leistungsfähige Mitarbeiter. Unternehmen haben ein ganz erhebliches Eigeninteresse an der Beschäftigung qualifizierter Mitarbeiter, ob mit oder ohne Behinderung. Zudem kann die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen auch Vorbildcharakter für andere Betriebe haben und damit zu einer positiven Außendarstellung des Unternehmens beitragen.

  1. Warum beschäftigen manche Arbeitgeber gar keine Schwerbehinderten?

Ein oft geäußerter Vorwurf ist, Arbeitgeber würden sich durch die Zahlung der Ausgleichsabgabe von der Beschäftigungspflicht „freikaufen“. Das ist auf mehreren Ebenen falsch. Denn einerseits ist ein „Freikaufen“ von der Beschäftigungspflicht nicht möglich. Das Gesetz bestimmt ausdrücklich, dass die Zahlung der Ausgleichsabgabe die Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht aufhebt (§ 160 Abs. 1 S. 2 SGB IX).

Andererseits sind die Ursachen für eine Nichterfüllung der Beschäftigungsquote vielschichtig und mit angeblich fehlender Einstellungsbereitschaft durch Arbeitgeber nicht zu erklären. Die Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit zeigt eindeutig: je kleiner der Betrieb, desto geringer auch die Schwerbehinderten-Beschäftigungsquote. So beträgt die Beschäftigungsquote bei Unternehmen zwischen 20 und 40 Arbeitsplätzen durchschnittlich nur 3,1 Prozent, bei Unternehmen ab 60 Arbeitsplätzen aber 5,2 Prozent und höher (2021, Hessen). Das zeigt: kleine Betriebe stehen vor ganz anderen Herausforderungen als größere Unternehmen. In größeren Unternehmensstrukturen sind die Möglichkeiten, schwerbehinderten Menschen einen passenden Arbeitsplatz anbieten zu können und ggf. notwendige Unterstützungsmaßnahmen zu organisieren (z. B. besonders eingerichteter Arbeitsplatz), erheblich besser. Dies erklärt sich zum einen daraus, dass kleine Unternehmen regelmäßig keine personellen Ressourcen haben, die sich speziell etwa um Gesundheitsbelange der Beschäftigten kümmern können. Oftmals sind auch die umfangreichen Unterstützungsmöglichkeiten durch Integrationsamt und Reha-Träger nicht bekannt. Zum anderen sind in kleinen Unternehmensstrukturen aber auch die tatsächlichen Einsatzmöglichkeiten für schwerbehinderte Menschen tendenziell erheblich geringer. Nicht jeder (schwerbehinderte) Arbeitnehmer kann auf jedem Arbeitsplatz tätig werden. Die Passgenauigkeit ist entscheidend, nicht das Vorhandensein einer Behinderung.

Weiterhin unterscheidet sich die Schwerbehinderten-Beschäftigungsquote erheblich je nach Branche. Dies kann Hinweis sein auf fehlende Einsatzmöglichkeiten für schwerbehinderte Menschen. So beträgt etwa die Beschäftigungsquote in der Luftfahrt mit besonders hohen sicherheitsbedingten Anforderungen an die Beschäftigten 2,5 Prozent (2020, bundesweit). Ein anderer Grund kann eine durchschnittlich jüngere und deshalb gesundheitlich weniger belastete Belegschaft sein. Besonders niedrig ist etwa die Schwerbehinderten-Beschäftigtenquote im Bereich „Werbung und Marktforschung“ (1,9 Prozent) sowie in „Herstellung, Verleih und Vertrieb von Filmen“ mit 1,6 Prozent. Beides Wirtschaftsbereiche, die mit knapp 12 Prozent einen nur etwa halb so hohen Anteil an Beschäftigten ab 55 Jahren haben wie die Gesamtwirtschaft (23 Prozent; Zahlen Sept. 2021).

Hinzu kommt: es ist gar nicht für jeden beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber möglich, die Beschäftigungsquote von 5 Prozent zu erfüllen. Denn es gibt schlicht nicht genügend schwerbehinderte Bewerber. Hessische Arbeitgeber zahlen derzeit Ausgleichsabgabe für rund 23.000 „unbesetzte“ Pflichtarbeitsplätze. Dem gegenüber stehen in Hessen derzeit rund 11.000 arbeitslose Schwerbehinderte. Selbst wenn also sämtliche der derzeit rund 11.000 arbeitslosen schwerbehinderten Menschen in Hessen in Arbeit vermittelt werden könnten (was nur theoretisch denkbar ist, da Qualifikation, Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes, mögliche tägliche Arbeitszeit und Unterstützungsbedarf passen müssten), würden hessische Arbeitgeber noch für rund 12.000 „unbesetzte“ Pflichtarbeitsplätze Ausgleichsabgabe zahlen müssen.

Und nicht zuletzt: ob nicht tatsächlich mehr schwerbehinderte Menschen – auch bei sog. „Null-Beschäftigern“ – tätig sind, ist gar nicht bekannt. Denn bei Einstellung eines Arbeitnehmers gibt es keine Offenbarungspflicht über eine Schwerbehinderteneigenschaft. Das Vorhandensein einer Schwerbehinderung wird dem Arbeitgeber oftmals auch später nicht bekannt.

  1. Wie finden noch mehr Schwerbehinderte in Beschäftigung?

Erfolgsfaktor für die Schwerbehindertenbeschäftigung ist die kompetente Beratung von Unternehmen über die vielen Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten, am besten aus der Hand eines einzigen Ansprechpartners. Der Gesetzgeber hat das Problem erkannt und mit dem Teilhabestärkungsgesetz sog. „einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber“ (§ 185a SGB IX) vorgesehen. Diese sollen Arbeitgeber zur Schwerbehindertenbeschäftigung informieren, beraten und unterstützen. Denn die Landschaft der Unterstützungsbehörden ist aus Sicht von Unternehmen und schwerbehinderten Menschen ziemlich unübersichtlich: Rentenversicherung, Berufsgenossenschaft, Arbeitsagentur, Integrationsfachdienste und Integrationsamt kommen in Betracht, um nur die wichtigsten zu nennen. Insbesondere kleine und mittlere Betriebe und schwerbehinderte Menschen müssen deshalb noch besser beraten und unterstützt werden. Dabei kommt es auch auf schnelle und unbürokratische Hilfe an. Die Vielgestaltigkeit der Rehabilitationsträgerlandschaft ist ein Hindernis, den richtigen Ansprechpartner zu finden. Die einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber sollen die Arbeitgeber auch aktiv ansprechen und bei der Schwerbehindertenbeschäftigung kompetent beraten und unterstützen können.

Die Reha-Träger sind deshalb aufgerufen, ihre Zusammenarbeit weiter deutlich zu verbessern, um Behinderungen abzuwenden oder (schwer)behinderte Menschen beim Erhalt der Erwerbsfähigkeit, der Rückkehr in Arbeit oder eben bei der Erlangung eines Arbeitsplatzes optimal zu unterstützen. Gemeinsame Empfehlungen und Arbeitshilfen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) bieten wertvolle Unterstützung und müssen in der täglichen Arbeit der Reha-Behörden auf Ebene der Sachbearbeitung genutzt werden. Wenn ein vom Arbeitgeber oder vom schwerbehinderten Menschen angesprochener Reha-Träger nicht zuständig ist, darf sich seine Feststellung nicht hierin erschöpfen, sondern er muss mithelfen, dass die richtige Behörde gefunden und tätig wird.

Zudem müssen auch noch deutlich mehr Schwerbehinderte den Sprung aus der Werkstatt für behinderte Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Die Werkstätten müssen mit Unterstützung der Reha-Träger und des Integrationsamts ihrem gesetzlichen Auftrag zur Förderung der Erwerbstätigkeit am ersten Arbeitsmarkt nachkommen, auch wenn das bedeutet, besonders qualifizierte Mitarbeiter zu verlieren. Werkstattbeschäftigung muss die Ausnahme für diejenigen bleiben, die ohne diesen geschützten Bereich von der Teilhabe am Arbeitsmarkt ausgeschlossen wären.

Weiterhin müssen Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung, insbesondere auch des Integrationsamts, auf Wirkung und Wirtschaftlichkeit untersucht werden. Ziel muss es sein, die Aufnahme von und den Verbleib in Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen nachhaltig zu unterstützen. Die Mittel der Ausgleichsabgabe sollen möglichst wirkungsvoll eingesetzt werden. Hierüber hat das Integrationsamt nicht zuletzt den finanzierenden Arbeitgebern gegenüber eine Berichtspflicht.

  1. Kann Digitalisierung die Inklusion begünstigen?

Die Digitalisierung der Arbeitswelt kann Inklusion begünstigen, sofern der schwerbehinderte Arbeitnehmer auf dem richtigen Arbeitsplatz eingesetzt wird. Eine Studie des IW Köln hat gezeigt, dass Unternehmen, die bereits heute stark auf Digitalisierung setzen, häufiger Menschen mit Behinderung beschäftigen als Unternehmen ohne Bezug zu Digitalisierung.

Im Betrieb können durch die Digitalisierung z. B. Arbeitsabläufe einfacher und individueller auf die Bedürfnisse von schwerbehinderten Beschäftigten angepasst werden. Zudem können Arbeitsprozesse durch neue technische Möglichkeiten, wie z. B. mobile Arbeit, Videokonferenzen und technische Unterstützung (Virtual-Reality-Brillen, Lesehilfen, Hebebühnen etc.) vermehrt barrierefrei gestaltet werden. Auch neue (digitale) Geschäftsmodelle können zu mehr Inklusion beitragen, z. B. indem Vertriebstätigkeiten virtuell statt in Präsenz stattfinden.

  1. Was ist sonst noch zu tun?

Die Berechnung der Ausgleichsabgabe ist ungerecht: Arbeitgeber in Hessen zahlen für rund 23.000 rechnerisch „unbesetzte“ Pflichtarbeitsplätze eine Ausgleichsabgabe in Höhe von insgesamt rund 68 Millionen Euro. Tatsächlich liegt die Zahl arbeitsloser Schwerbehinderter in Hessen aber derzeit nur bei 11.000. Es kann also gar nicht jeder Pflichtarbeitsplatz, für dessen Nichtbesetzung Arbeitgeber eine Ausgleichsabgabe bezahlen müssen, mit einem schwerbehinderten Menschen besetzt werden. Daher muss die Zahl der unbesetzten Pflichtarbeitsplätze gesetzlich so begrenzt werden, dass sie nicht höher ist als die jahresdurchschnittliche Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen eines Bundeslandes (Jahresdurchschnitt 2021: rund 12.000). Es kann nicht richtig sein, von Arbeitgebern etwas faktisch Unmögliches zu verlangen und dann bei „Nichterfüllung“ eine Geldzahlung aufzuerlegen.

Hintergrund

Beschäftigungspflicht

Private und öffentliche Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich monatlich mindestens 20 Arbeitsplätzen müssen auf mindestens 5 % der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen beschäftigen (§ 154 SGB IX). Solange Arbeitgeber die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen nicht beschäftigen, müssen sie für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz für schwerbehinderte Menschen eine Ausgleichsabgabe entrichten (§ 160 SGB IX). Die Ausgleichsabgabe ist ab dem Jahr 2024 in 4 Stufen gestaffelt und beträgt – je nach Beschäftigungsquote – zwischen 140 Euro und 720 Euro monatlich (Staffelsätze ab 2024).

Pflichtarbeitsplätze, beschäftigte und arbeitslose schwerbehinderte Menschen in Hessen

Die Zahl der Pflichtarbeitsplätze in Hessen in Unternehmen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen beträgt rund 105.000 (2021). Tatsächlich beschäftigt sind demgegenüber bei beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern rund 103.000 schwerbehinderte Menschen (2021), und weitere rund 17.500 bei nicht beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern (2020; diese Zahl wird nur alle 5 Jahre erhoben). Insgesamt also über 120.000. Gleichwohl werden rund 23.000 nicht besetzte Pflichtarbeitsplätze für Hessen ausgewiesen (2021). Grund hierfür ist, dass zwar einerseits in vielen beschäftigungspflichtigen Unternehmen mehr schwerbehinderte Menschen beschäftigt werden, als dies nach der Mindest-Quote vorgeschrieben ist. Andererseits beschäftigt etwas weniger als ein Viertel der beschäftigungspflichtigen Unternehmen gar keinen schwerbehinderten Menschen (2020, Hessen). Die Zahl der arbeitslosen schwerbehinderten Menschen, die zur Erfüllung der Pflichtquote in Hessen eingestellt werden könnten, beträgt demgegenüber rund 11.000 (März 2022), ist also um rund 12.000 niedriger als die Zahl der unbesetzten Pflichtarbeitsplätze. Nur rund 3 Prozent (Destatis 2020) der Schwerbehinderteneigenschaft ist angeboren, im Übrigen aber im Lauf des Lebens erworben, und zwar regelmäßig erst im höheren Lebensalter. Knapp 90 Prozent der schwerbehinderten beschäftigten Menschen sind 40 Jahre und älter (2020, Hessen)

Ansprech­partner

VhU, Landesgeschäftsstelle
Dr. Stefan Hoehl

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik

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