Missbrauch von Sozialgerichtsverfahren einschränken

VhU-Stellungnahme zur Gesetzesinitiative der Hessischen Landesregierung zur Einführung einer sog. „Vielklägergebühr“ im sozialgerichtlichen Verfahren.

Aktualisiert am: 09.05.2024 6 Min. Lesezeit

Zusammenfassung

Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit sind grundsätzlich kostenfrei (§ 183 SGG). Leider häufen sich in der Sozialgerichtsbarkeit aber Fälle, in denen einzelne Kläger die Kostenfreiheit ausnutzen und Gerichte wiederholt mit einer Vielzahl von aussichtslosen Verfahren beschäftigen. Hierdurch werden begrenzte Justizressourcen gebunden und der effektive Rechtsschutz Dritter beeinträchtigt. Die derzeitige gesetzliche Regelung ist unzureichend, weil sie eine Kostenauferlegung wegen Missbrauchs nur bei Verfahrensbeendigung vorsieht – wenn also die Ressourcen der Justiz bereits in Anspruch genommen wurden. Die Hessische Landesregierung hat auf dieses Problem mit einem Gesetzentwurf zur Einführung einer sog. „Vielklägergebühr“ im sozialgerichtlichen Verfahren vom 31.08.2020 reagiert (Bundesrats-Drucksache 495/20).

Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Regelung de lege ferenda wäre eine wirksame Neuregelung einer Missbrauchs- oder Vielklägergebühr im sozialgerichtlichen Verfahren daher begrüßenswert. Sie würde nicht nur Gerichte und Steuerzahler entlasten, sondern auch all diejenigen schützen, deren Verfahren ein echtes und nachvollziehbares Rechtschutzbegehren zugrunde liegt.

Im Einzelnen

Das Problem der „Vielkläger“ wird durch Praktiker in der Sozialgerichtsbarkeit bestätigt: Die grundsätzliche Gerichtskostenfreiheit wird vereinzelt dahingehend missbraucht, dass wiederholt völlig aussichtlose Verfahren angestrengt werden – teilweise auch wiederholt durch alle Instanzen (s. Erläuterung zur Bundesrats-Drucksache 495/20 v. 31.08.2020). Auf diese „Vielkläger“ entfällt ein nicht unerheblicher Anteil der Verfahrenseingänge. So wurden vor dem Hessischen Landesssozialgericht im Zeitraum von 2010 bis 2019 knapp 20 % der Verfahren von weniger als 1 % der Rechtsschutzsuchenden betrieben. Mehr als 20 % aller erfolglosen Verfahren wurden dabei von nur 112 Klägern angestrengt, die in diesem Zeitraum bereits jeweils mindestens 9 erfolglose Verfahren geführt hatten. Ein Kläger hat allein im Jahr 2019 gar 250 zweitinstanzliche Verfahren vor dem Landessozialgericht angestrengt – die Verfahren erster Instanz noch nicht einberechnet. Diese Inanspruchnahme von zeitlichen und personellen Ressourcen der Justiz hat nicht selten zur Folge, dass andere Rechtsschutzbegehren, denen ein legitimes und nachvollziehbares Begehren zugrunde liegt, nur verzögert bearbeitet werden können.

Derzeitige Missbrauchs-Regelung unzureichend

De lege lata kommt eine Kostenauferlegung wegen Missbrauchs nur bei Verfahrensbeendigung und unter der Voraussetzung in Betracht, dass der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm die Missbräuchlichkeit durch den Richter dargelegt worden ist (§ 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG). Die Auferlegung der Kosten erfolgt jedoch erst im Urteil oder Beschluss des Richters, also zu einem Zeitpunkt, zu dem bereits erhebliche zeitliche und personelle Ressourcen durch den Kläger in Anspruch genommen wurden. Die derzeitige Regelung wirkt daher nur als nachträgliche „Pönalisierung“ missbräuchlichen Verhaltens, entfaltet aber keine präventive Wirkung in Bezug auf Vielkläger, wie die Erhebungen der Hessischen Sozialgerichtsbarkeit zeigen. Eine künftige Regelung muss somit bereits präventiv ansetzen.

Vorstoß der Hessischen Landesregierung begrüßenswert

Die Hessische Landesregierung hat unter dem 31.08.2020 einen Gesetzentwurf zur Einführung einer besonderen Verfahrensgebühr für Vielkläger im sozialgerichtlichen Verfahren vorgelegt (Bundesrats-Drucksache 495/20). Der Gesetzentwurf sieht die Einführung einer besonderen Verfahrensgebühr in Höhe von 30 Euro je Rechtszug ab der zehnten Streitsache innerhalb eines Zehnjahreszeitraums vor. Die Gebühr soll ohne Beteiligung des Richters durch die Geschäftsstelle festgesetzt werden können. Die besondere Verfahrensgebühr entsteht, sobald die Streitsache rechtshängig geworden ist oder ein Rechtsmittel wirksam eingelegt wurde und ist sofort fällig. Bis zur Zahlung der Gebühr wird das Verfahren vom Gericht nicht weiter betrieben. Wird sie nicht innerhalb von drei Monaten nach ihrer endgültigen Feststellung gezahlt, gilt der Antrag, die Klage oder das Rechtsmittel als zurückgenommen. Gegen die Feststellung der besonderen Verfahrensgebühr sieht der Gesetzentwurf Rechtsschutzmöglichkeiten vor. Zudem kann das Gericht die Gebührenschuld aufheben, wenn dies zur Rechtsschutzgewährung geboten ist.

Vielkläger- oder Missbrauchsgebühr?

Die von der Hessischen Landesregierung vorgeschlagene besondere Verfahrensgebühr für Vielkläger dürfte grundsätzlich geeignet sein, missbräuchliche Verfahren zu vermeiden, indem sie ein Kostenbewusstsein für die Inanspruchnahme von Justizressourcen schafft.

Ein weiterer gangbarer Weg wäre die Festsetzung eines Vorschusses auf die Missbrauchs- bzw. Verschuldensgebühr gem. § 192 Abs. 1 S. 1 SGG. Um nur Fallgestaltungen einer missbräuchlichen Inanspruchnahme der Gerichte zu erfassen, sollte die Anordnung einer Missbrauchsgebühr von eng begrenzten Voraussetzungen abhängig gemacht werden, z.B. davon, dass bereits einmal eine Missbrauchsgebühr verhängt und nicht bezahlt wurde, Hinweise auf fehlende Erfolgsaussichten mehrfach ignoriert wurden oder dass bei einer Vielzahl von Verfahren keine Erfolgsaussichten erkennbar sind (so auch Prof. Rainer Schlegel in Legal Tribune Online: Eine Gebühr für „Vielkläger“? – Interview vom 17.11.2020). Wenn der Vorschuss auf die Missbrauchsgebühr angeordnet wird, wird die weitere Bearbeitung von der Bezahlung des Vorschusses abhängig gemacht. Im Falle des Obsiegens sollte die Missbrauchsgebühr erstattet werden.

Gebührenregelungen verfassungsrechtlich unbedenklich

Die dargestellten Gebührenregelungen begegnen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verwehrt ist, mit einer Gebührenregelung neben der Kostendeckung auch das Ziel anzustreben, einer leichtfertigen oder gar missbräuchlichen Einlegung von Rechtsbehelfen entgegenzuwirken (BVerfG, Beschluss vom 06.02.1979 (2 BvL 5/76), BVerfGE 50, 217). Allerdings muss ein sachgerechtes Verhältnis zwischen der Höhe der Gebühren und den tatsächlichen Kosten der gebührenpflichtigen staatlichen Leistung gegeben sein. Zudem darf die Gebühr nicht außer Verhältnis zu dem wirtschaftlichen Wert stehen, den das gerichtliche Verfahren für den einzelnen Beteiligten hat (BVerfG, Beschluss vom 12.02.1992 (1 BvL 1/89), BVerfGE 85, 337). Rechtsschutz darf nicht von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Person abhängen (BVerfG, Beschluss vom 06.02.1979 (2 BvL 5/76), BVerfGE 50, 217, 231). Die Erhebung einer Vielkläger- oder Missbrauchsgebühr in Höhe von 30 Euro dürfte selbst Empfänger von Grundsicherung nicht überlasten. Eine Regelung, die die Festsetzung der besonderen Verfahrensgebühr an die Anzahl der angestrengten Verfahren knüpft, sollte zudem so ausgestaltet werden, dass hierdurch nicht legitime Rechtsschutzinteressen beeinträchtigt werden. Denn im Einzelfall ist es durchaus denkbar, dass eine Vielzahl von Verfahren angestrengt werden muss, um berechtigte Interessen durchzusetzen. Dies wird durch den Gesetzentwurf der Hessischen Landesregierung ausreichend berücksichtigt, indem die Aufhebung der Gebührenschuld zur Rechtsschutzgewährung im Einzelfall möglich bleibt.

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