10 Thesen zur Zuwanderung von Fachkräften
Zusammenfassung
Fachkräftezuwanderung als notwendiger Baustein gegen Fachkräftemangel
Von der Pflegekraft über den Elektrotechniker bis zum Softwareentwickler und Straßenbauer fehlen schon heute in vielen Branchen und auf allen Qualifikationsstufen Arbeitskräfte. Unbesetzte Arbeitsplätze – insbesondere im qualifizierten und hochqualifizierten Bereich – bedeuten aber nicht nur, dass diese Arbeit nicht gemacht wird. Gleichzeitig wird die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert, die von qualifizierten Arbeitsplätzen abhängen.
Die Fachkräftelücke in Hessen wird bis zum Jahr 2035 auf rund 495.000 Personen ansteigen. Bis 2040 wächst die Gruppe der über 65-Jährigen um rund 370.000 Personen an. Der schon jetzt spürbare Fachkräftemangel wird sich von Jahr zu Jahr verschärfen, wenn die geburtenstarke Babyboomer-Generation aus dem Arbeitsmarkt ausscheidet.
Damit nicht mit den Arbeitskräften auch unser Wohlstand schrumpft, kommen folgende Maßnahmen in Betracht: Ältere, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund müssen noch mehr am Erwerbsleben teilnehmen. Auch die Bemühungen, noch mehr der rund 150.000 Arbeitslosen in Arbeit zu bringen, müssen gesteigert werden. Selbst bei optimaler Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials bleibt jedoch eine große Lücke, zu deren teilweiser Schließung eine verstärkte qualifizierte Zuwanderung unbedingt erforderlich ist.
Deutschland steht mit anderen (europäischen) Industrienationen im Wettbewerb um Hochqualifizierte und ist gegenüber englischsprachigen Ländern zunächst im Nachteil. Daher muss Deutschland als Einwanderungsland attraktiver werden. Denn bislang kommt ein Großteil der Fachkräfte aus der EU, während das Potenzial hochqualifizierter Nicht-EU-Bürger kaum ausgeschöpft wird. Aus Drittstaaten, also Nicht-EU-Ländern, wanderten im Jahr 2019 nur rund 40.000 Fachkräfte zur Erwerbstätigkeit nach Deutschland zu.
Mit dem Flughafen Frankfurt ist Hessen die erste Anlaufstelle in Deutschland für viele Menschen aus aller Welt. Schon heute zeichnet sich das Rhein-Main-Gebiet als Standort für bedeutende internationale Unternehmen aus. In einer immer stärker zusammenarbeitenden und vernetzten Wirtschaftswelt bedeutet eine hohe Internationalisierung einen Standortvorteil, der gepflegt und ausgebaut werden sollte. Deshalb hat Hessen besonderen Grund, sich für eine verstärkte Fachkräftezuwanderung einzusetzen.
10 Thesen
These 1: Qualifizierte Zuwanderung schafft Wohlstand.
Qualifizierte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt schafft regelmäßig neue Arbeit und nimmt niemandem einen Arbeitsplatz weg. In einer immer vernetzteren Wirtschaftswelt sind Zuwanderer gleichzeitig wertvolle Scharniere in ihre jeweiligen Herkunftsländer. Sofern Zuwanderer im Laufe ihres Arbeitslebens wieder in ihr Heimatland oder ein anderes Land ziehen, kann die in Deutschland gemachte Erfahrung dem Wirtschaftsaustausch nutzen.
These 2: Zuwanderung muss gesteuert werden.
Damit die Zuwanderung einen Beitrag zur Abmilderung des Fachkräftemangels leisten kann, muss sie gesteuert werden. Eine Massenzuwanderung in ungelernte Arbeit wäre kontraproduktiv. Stattdessen brauchen wir ganz überwiegend Fachkräfte mit bestimmten Qualifikationen, die wir nach dem aktuellen Bedarf am Arbeitsmarkt definieren müssen. Diese Qualifikationen sind die Gewähr dafür, dass die Zugewanderten Arbeit finden und sich leicht integrieren können.
These 3: Zuwanderungsverfahren müssen schneller und serviceorientierter werden.
Insgesamt muss das gesamte Verfahren von der Visumerteilung bis hin zur Inlandsintegration noch deutlich flüssiger, serviceorientierter und damit attraktiver für Zuwanderungswillige werden. Denn momentan kann allein das Warten auf Visatermine – je nach Auslandsvertretung – mehrere Monate in Anspruch nehmen. Dies kann potenzielle Bewerber abschrecken. Der Bund sollte daher für alle Arten der Fachkräfteeinwanderung verbindliche Vorgaben für maximale Wartezeiten bei den Visastellen vorgeben.
Auch die Verfahren der Anerkennung von beruflichen Qualifikationen müssen vereinheitlicht und deutlich einfacher und schneller werden. Denn für Personen mit einer Berufsausbildung ist die Anerkennung der beruflichen Qualifikation im Regelfall die Voraussetzung für die Einreise. Bundesweit existieren jedoch über 1.000 mögliche Anerkennungs-Stellen. Diese Zersplitterung verhindert schnelle, effiziente und unbürokratische Entscheidungen, weil für wenige (oft komplexe) Fälle jeweils viele unterschiedliche Behörden zuständig sind. Für unbürokratischere und straffere Verfahren ist daher eine stärkere Zentralisierung der Anerkennungsstellen notwendig. Grundsätzlich sollte überlegt werden, ob auf die der Einreise vorgelagerte Anerkennung der Qualifikation nicht verzichtet werden kann, wenn sie zur Berufsausübung nicht zwingend notwendig ist (z. B. in nicht-reglementierten Berufen).
Für eine reibungslose Kommunikation mit ausländischen Fachkräften müssen Behörden zudem künftig in der Lage sein, mit ausländischen Arbeitskräften auf Englisch zu kommunizieren. Auch sollten Originaldokumente flächendeckend auf Englisch akzeptiert werden, damit auf teure Übersetzungen in die deutsche Sprache verzichtet werden kann.
These 4: Zentrale Ausländerbehörden für Fachkräfte sind notwendige Voraussetzung für beschleunigte Verfahren
Die Landesregierung muss dafür sorgen, dass auch in Hessen ausreichend personell und sächlich ausgestattete Zentrale Ausländerbehörden (ZAB) für das sog. beschleunigte Fachkräfteverfahren eingerichtet werden. Denn im beschleunigten Verfahren kommt den ZAB eine Schnittstellenfunktion zwischen Arbeitgeber, Bundesagentur für Arbeit, Auslandsvertretung und Anerkennungsstelle zu. Zudem erhielten Arbeitgeber und Fachkräfte endlich einen einheitlichen Ansprechpartner. Weitere Vorteile sind schnellere Bearbeitungsfristen, mehr fachliche Kompetenz und eine einheitliche Verwaltungspraxis in Hessen. Auch deshalb haben bereits 10 der 16 Bundesländer ZAB eingerichtet. Hessische Unternehmen dürfen im Wettbewerb um Hochqualifizierte keine Standortnachteile erleiden.
These 5: Der Zugang für Fachkräfte muss weiter erleichtert werden.
Selbst für hochqualifizierte Fachkräfte ist der Zugang in den deutschen Arbeitsmarkt oft mit Schwierigkeiten verbunden. Zwar können Fachkräften bereits jetzt eine Aufenthaltserlaubnis zur Stellensuche für bis zu 6 Monate erlangen (§ 20 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz). Diese Regelung wird allerdings noch viel zu selten in Anspruch genommen. Stark hemmend wirkt hier insbesondere, dass die Zuwanderer einen gesicherten Lebensunterhalt nachweisen müssen und gleichzeitig in Deutschland keiner Erwerbstätigkeit nachgehen dürfen, die über eine Probearbeit hinausgeht. Dies verschließt vielen motivierten Fachkräften den Zugang in den deutschen Arbeitsmarkt. Für leicht zu integrierende Fachkräfte mit gefragten Kompetenzen oder in Mangelberufen müssen Ausnahmen von diesen Grundsätzen möglich sein. Dieser Ansatz sollte kombiniert werden mit einem gezielten Ansprechen und Anwerben von solchen Fachkräften.
Zudem müssen ausländische Studenten aus Nicht-EU-Staaten einen unbefristeten Aufenthaltstitel ohne jegliche zeitliche oder qualifikatorische Einschränkung erhalten können. Bisher wird Absolventen lediglich ein befristeter Aufenthaltstitel zur Arbeitssuche angeboten. In der Folge bleiben nur verhältnismäßig wenige Studienabsolventen hier, obwohl sie mit dem Studienabschluss – insbesondere wenn sie ihr Studium vollständig hier absolviert haben – ihre Integration bewiesen haben und Deutschland erheblich in ihre Ausbildung investiert hat. Mit einem verlängerten Aufenthaltstitel könnten leicht wertvolle Personalressourcen für unser Land gesichert werden, die schon vor Ort sind und nicht erst von einem Zuzug nach Deutschland überzeugt werden müssen.
These 6: Die aktive Ansprache von Fachkräften muss verstärkt werden.
Damit die Erwerbszuwanderung aus Drittstaaten an Fahrt gewinnt, müssen Fachkräfte künftig auch von staatlichen Stellen und der Arbeitsverwaltung noch aktiver angesprochen und informiert werden. Die von der „Zentralen Auslands- und Fachvermittlung“ (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit (BA) beabsichtigten dauerhaften Auslandsvertretungen in bestimmten Zielregionen können hierzu einen Beitrag leisten. Auch die Werbe- und Informationskampagne „Make it in Germany“ (Bundeswirtschaftsministerium / IW Köln) stellt einen gelungenen Anfang dar.
These 7: Unser Standort muss attraktiver für ausländische Fachkräfte werden.
Damit sich auch mehr Fachkräfte für Deutschland als Arbeitsort und Lebensmittelpunkt entscheiden, sind gute Arbeits- und Lebensbedingungen elementar. Hierzu zählen etwa die Begrenzung der Steuerlast sowie von Sozialversicherungsbeiträgen bei maximal 40 Prozent, ein flächendeckendes Angebot an Kinderbetreuung sowie ein attraktives und qualitativ hochwertiges Bildungssystem.
These 8: Das Verbot der Beschäftigung in der Zeitarbeit gehört abgeschafft.
Eine Beschäftigung von Fachkräften aus Drittstaaten in der Zeitarbeit ist mit wenigen Ausnahmen verboten. Dabei könnten von der Vermittlungsexpertise der Zeitarbeitsunternehmen gerade kleine und mittlere Unternehmen profitieren, für die die Anwerbung von Fachkräften im Ausland schwieriger zu organisieren ist. Zeitarbeitsunternehmen könnten hier einen entscheidenden Beitrag leisten, denn sie haben in der Auswahl, Betreuung und Qualifizierung ausländischer Fachkräfte viel Erfahrung gesammelt. Schon heute beträgt der Ausländeranteil in der Zeitarbeit 36,8% im Vergleich zu 12,9% in der Gesamtwirtschaft. Das beweist die starke Integrationsfunktion, die die Personaldienstleistungsbranche in Bezug auf ausländische Arbeitskräfte hat. Eine Beschäftigung in der Zeitarbeit kann zudem Berufschancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt ermöglichen, weil ein erster Kontakt zwischen Unternehmen und ausländischen Fachkräften hergestellt wird. Ist die Fachkraft im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung in einem Entleihbetrieb beschäftigt, weiß der Betrieb um dessen Kompetenzen und Fertigkeiten. Häufig werden diese Zeitarbeitnehmer dann von den entleihenden Unternehmen übernommen. Das Zeitarbeits-Verbot für Fachkräfte aus Drittstaaten ist nicht mehr zeitgemäß, verhindert eine effiziente Rekrutierung von Fachkräften und muss daher gestrichen werden.
These 9: Wir brauchen beides: mehr qualifizierte Zuwanderung und eine bessere Integration von Menschen mit Migrationshintergrund.
Die Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund – besonders von Frauen – ist gegenüber der übrigen Bevölkerung deutlich niedriger. Zudem haben 46 % der Ausländer und 28 % der in Hessen lebenden Menschen mit Migrationshintergrund keinen Berufsabschluss (gegenüber 10 % der Deutschen ohne Migrationshintergrund). Die Arbeitslosen¬quote von Ausländern ist mehr als dreimal so hoch wie die von Deutschen. Rund 60 % der Arbeitslosen in Hessen haben einen Migrationshintergrund, in der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind es sogar 68 %. Diese Verwerfungen müssen mit einer erfolgreicheren Bildungspolitik, die mit der frühkindlichen Förderung beginnt, drin¬gend behoben werden. Dies ist lebenswichtig für das Funktionieren unserer Gesellschaft, weil die Hälfte der unter 18-jährigen in Hessen einen Migrationshintergrund haben. Keinesfalls darf diese Aufgabe aber als Alibi dafür herhalten, die Bemühungen um eine verstärkte Zuwanderung von leicht integrierbaren Fachkräften abzublocken; denn wir brauchen beides – als die zwei Seiten derselben Medaille.
These 10: Die aktivierende Arbeitsmarktpolitik muss fortgesetzt werden.
Durch die Folgen der Corona-Pandemie ist die Langzeitarbeitslosigkeit auch in Hessen stark angestiegen und ist mit rund 60.000 Personen (Mai 2022) noch immer deutlich gegenüber dem Vorkrisenstand erhöht (rund 47.000, April 2019). Allerdings bieten sich im wiedererstarkten Arbeitsmarkt auch für Geringqualifizierte breite Beschäftigungsmöglichkeiten, z. B. in Zeitarbeit, befristeter Beschäftigung, Minijobs oder in Teilzeit. Die Vermittlung in Arbeit dient dabei auch der beruflichen Aktivierung, damit die Abhängigkeit von Sozialleistungen nicht zum Normalfall wird. Wenn der Einstieg in eine – entsprechend der Qualifikation – entlohnte Tätigkeit geschafft ist, schlägt die VhU eine intensive Begleitung durch Fallmanager vor, die berufsbegleitende Qualifizierung organisieren und in besser bezahlte Arbeit vermitteln. Dabei sollte ein Fokus auf die abschlussorientierte Qualifizierung gelegt werden, weil diese den vielen Geringqualifizierten die Chance auf den Erwerb eines vollwertigen Berufsabschluss bietet. Hier gilt es insbesondere das Modell der Teilqualifizierung (TQ) weiter zu fördern.
An dem Grundsatz des „Förderns und Forderns“ muss auch künftig festgehalten werden. Das von der rot-grün-gelben Koalition im Bund geplante Bürgergeld ist abzulehnen, da die Bedürftigkeitsprüfung in den ersten 2 Jahren faktisch ausgesetzt und der Vermittlungsvorrang abgeschafft werden sollen. Hierdurch drohen die Erfolge der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik der letzten 15 Jahre wieder rückabgewickelt zu werden.