Bürgergeld: Etikettenschwindel auf Kosten der Beschäftigung

Mit dem Bürgergeld werden Arbeitsanreize geschwächt, Sozialleistungen ausgeweitet und neue Brücken in die Frühverrentung gebaut.

Aktualisiert am: 09.05.2024 9 Min. Lesezeit

Zusammenfassung

Mit dem Bürgergeld werden Arbeitsanreize geschwächt, Sozialleistungen ausgeweitet und neue Brücken in die Frühverrentung gebaut. Das Bürgergeld verschlechtert die Situation auf dem Arbeitsmarkt, weil es auf arbeitsmarktpolitischen Rezepten der Vergangenheit beruht, statt die Herausforderungen von morgen in den Blick zu nehmen. Höhere Vermögensfreigrenzen bedeuten mehr Anspruchsberechtigte. Gleichzeitig soll mit dem Bürgergeld das Kriterium der Hilfebedürftigkeit in den Hintergrund gedrängt und Sanktionen abgeschwächt werden. Insgesamt wird mit dem Gesetzentwurf der Abschied vom aktivierenden Sozialstaat weiter vorangetrieben. Das ist eine grundlegende Fehlentwicklung.

Wenn zwei Jahre lang Vermögen von z. B. 120.000 Euro für eine dreiköpfige Familie nicht angerechnet und die Mietkosten für eine Wohnung unbegrenzt hoch gezahlt werden, hilft der Sozialstaat Menschen, denen nicht vorrangig geholfen werden sollte. Hinzu kommt das weitgehende Aussetzen und Erschweren von Sanktionen im ersten bzw. zweiten halben Jahr des Leistungsbezugs. Ein solches weitgehend bedingungsloses Grundeinkommen widerspricht dem grundlegenden Sozialstaatsprinzip, dass die Solidargemeinschaft erst dann unterstützt, wenn der Einzelne der Hilfe bedarf.

Die Streichung jeder Reaktions- bzw. Sanktionsmöglichkeit der Jobcenter bei Pflichtverletzungen – selbst von Totalverweigerern – in den ersten sechs Monaten wird mit dem Begriff Vertrauenszeit politisch verschleiert. Sie vermittelt den falschen Eindruck, dass es in Ordnung ist, wenn Leistungsbezieher ihre Mitwirkung, wie z. B. Teilnahme an einer Maßnahme ohne nachvollziehbaren Grund verweigern.

Im Ergebnis sollen u. a. hart arbeitende Steuerzahler, die vielfach selbst über kein Vermögen verfügen, den erweiterten Vermögenserhalt von Personen finanzieren, die von der Neuregelung profitieren. Das ist leistungsfeindlich und ungerecht. Sozialstaatliches Handeln sollte sich darauf konzentrieren, das Existenzminimum solcher Personen abzusichern, die tatsächlich bedürftig sind. Dies gilt umso mehr in einer Zeit mehrjähriger, nicht ausgestandener Krisen, die mit Wohlstandsverlusten und Belastungen für fast alle einhergehen, etwa durch explodierende Energiepreise.

Mit dem Bürgergeld besteht zudem die Gefahr, dass die geplanten Änderungen direkt für Frühverrentungen genutzt werden. Denn durch den 24-monatigen Arbeitslosengeldbezug für Ältere in Verbindung mit dem großzügigen Vermögensschutz während der Karenzzeit im Bürgergeldbezug und den Verzicht auf die Inanspruchnahme einer Altersrente mit Abschlag, wird eine vierjährige Brücke in die abschlagfreie Rente gebaut. Auch bei allen anderen Arbeitslosengeldbeziehern fallen Anreize weg, zügig den Leistungsbezug durch Aufnahme einer Beschäftigung zu beenden.

Vor dem Hintergrund von Arbeits- und Fachkräftemangel sind die neuen Anreize zum Verharren im Leistungsbezug und die neue Frühverrentungsbrücke fatale Fehlentscheidungen. Arbeitsmarktpolitisch richtig ist das Gegenteil - also die Beibehaltung des erfolgreichen Grundsatzes von Fördern und Fordern sowie substantiell verbesserte Anrechnungsregeln beim Hinzuverdienst. Die Aufnahme und die Ausweitung von Beschäftigung muss sich mehr lohnen.

Die Fehlkonstruktion des Bürgergelds ist obendrein noch teuer: Die im Gesetzentwurf ausgewiesenen Mehrkosten von rund 4,7 Mrd. € im Jahr 2023 bis hin zu 5,8 Mrd. € im Jahr 2026 berücksichtigen noch nicht einmal den volkswirtschaftlichen Schaden durch Entzug von Beschäftigung am Arbeitsmarkt, der z. B. durch Frühverrentung und fehlende Aktivierung entsteht. Die Ausweitung des Vermögensschutzes und die vermutete Angemessenheit von Mietwohnungen in den ersten zwei Jahren werden Kommunen und Länder teuer zu stehen kommen.

Noch fragwürdiger werden diese milliardenschweren Mehrausgaben, nimmt man die immer schwierigere Finanzierung des Sozialstaats in den Blick. Die Ausgaben von Kranken- und Pflegeversicherung steigen vor allem durch zahlreiche ausgabensteigernden Gesetze und die Alterung der Bevölkerung schon im Jahr 2023 um voraussichtlich 0,5 Beitragspunkte. Hinzu kommt eine Steigerung bei der Arbeitslosenversicherung um 0,2 Beitragspunkte. In der Rentenversicherung drohen schon ab 2025 Beitragssatzsprünge im Zuge des Renteneintritts der geburtenstarken Jahrgänge. Ohne Reformen droht ein Gesamtsozialversicherungsbeitrag von bis zu 50 % im Jahr 2040. Und schon heute wird über die Hälfte des Bundeshaushalts für Soziales ausgegeben, darunter 110 Mrd. Euro für die Rentenversicherung.

All dies in einer Zeit, in der die Chancen am Arbeitsmarkt durch die demografische Entwicklung und den Arbeitskräftemangel besser sind als jemals zuvor und in der jede und jeder dringend am Arbeitsmarkt gebraucht wird. Mit Blick auf die Gesamtheit an tiefgreifenden Systemveränderungen ist unverständlich, dass die meisten Regelungen nicht befristet sind. Eine Evaluation soll vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales richtigerweise beauftragt werden.

Das bestehende System der Grundsicherung wird mit dem Gesetzentwurf aus offenbar parteitaktischen Gründen zu Unrecht schlecht geredet. Es gab – anders als es suggeriert wird – auch bisher eine vertrauensvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Jobcenter-Mitarbeitern und Leistungsempfängern. Für die Mitarbeiter der Jobcenter brauchen wir im Gegenteil mehr Respekt und Wertschätzung. Seit 2006 ist die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im SGB II in Hessen auch durch gute Arbeit der Jobcenter um rund 50.000 Personen gesunken (Jahresdurchschnitte 2006, 2021). Das ist ein beachtlicher Erfolg, der nur fortgesetzt werden kann, wenn Jobcenter auch künftig konsequent „Kurs auf Beschäftigung“ halten und Leistungsbezieher konsequent aktivieren und in Arbeit vermitteln.

Grundsätzlich nachvollziehbar ist es, mehr Anreize für Weiterbildung zu setzen. Denn fast zwei Drittel der Leistungsbezieher sind geringqualifiziert. Auch die geplanten Freibeträge für Einkommen von Jugendlichen sind zielführend, weil Jugendlichen so der Wert von Arbeit vermittelt wird. Positiv sind außerdem verschiedene Verfahrensvereinfachungen, die die Arbeit der Jobcenter erleichtern sollen.

Insgesamt ist es jetzt wichtig, dass die hessische Jobcenter weiter „Kurs auf Beschäftigung“ halten. Hierzu müssen Bundesagentur für Arbeit, Land und Kommunen sicherstellen, dass die Einführung des Bürgergeldes und die verringerten Sanktionsmöglichkeiten nicht dazu führen, dass die Jobcenter in Hessen (gemeinsame Einrichtungen und kommunale Jobcenter) in ihren Anstrengungen zur Aktivierung, Vermittlung, Qualifizierung und Beratung von Leistungsbeziehern nachlassen.

Im Einzelnen

Schlechtreden der Grundsicherung völlig verfehlt

Die „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ist ein Erfolgsmodell. Seit ihrer Einführung im Jahr 2005 hatte sie erheblichen Anteil daran, dass die Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und schlechter Arbeitsmarktchancen Anfang der 2000er-Jahre überwunden werden konnten.

Deutschland galt damals mit rund 4,9 Mio. Arbeitslosen und einer Arbeitslosenquote von knapp 12 % als „kranker Mann Europas“. Kaum 18 Jahre später und einiger Krisen zum Trotz hat sich die Arbeitslosenquote mehr als halbiert. Die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im SGB II ist seit 2006 bundesweit um über 1,5 Mio. Personen (-30 %) zurückgegangen. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Hessen konnte seit dem Jahr 2006 um rund 50 % reduziert werden. Aber auch die Leistungsbezieher sind weit überwiegend mit der Arbeit der Jobcenter zufrieden: über zwei Drittel sind voll und ganz oder eher zufrieden damit, wie das Jobcenter mit ihnen umging (Umfrage des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, 2020). Diese Erfolge müssen größere Anerkennung erfahren.

Der Referentenentwurf redet die Grundsicherung zu unrecht schlecht, indem er eine Beratungs- und Vermittlungspraxis suggeriert, die nicht der Realität entspricht und die Arbeit in den Jobcentern diskreditiert. Auch bisher wurden die erforderlichen persönlichen Merkmale, beruflichen Fähigkeiten und die individuellen Stärken von Leistungsbeziehern erfasst und berücksichtigt. Schon jetzt findet Beratung und Vermittlung auf Augenhöhe statt. Unverständlich ist daher, dass durch reine Begriffsänderungen, wie dem neuen „Kooperationsplan“ ein Wandel in der Kundenbeziehung erzielt werden soll.

Das Schlechtreden der insgesamt guten Arbeit der Jobcenter-Mitarbeiter und das Neuetikettieren bewährter Instrumente sind also völlig fehl am Platz. Stattdessen muss die grundsätzlich gute Arbeit der Jobcenter mehr Anerkennung erfahren, auch wenn es wie überall Verbesserungsbedarf gibt.

Fördern ohne Fordern darf es nicht geben

Wer keine Arbeit aufnehmen will, muss das auch nicht, solange er nur zu Terminen erscheint – das ist die falsche Botschaft der sog. Vertrauenszeit. Dieser vorgesehene Verzicht auf Sanktionen wegen Pflichtverletzungen in den ersten sechs Monaten ist ein hochproblematisches und falsches Signal. Denn die Arbeitsmarktforschung zeigt, dass Sanktionen mit Verhaltensänderungen und verstärkten Bemühungen um die Aufnahme einer Erwerbsarbeit einhergehen (vgl. etwa Bruckmeier et al., IAB-Stellungnahme 5/2018). Mit der weitgehenden Aussetzung von Sanktionen würde den Mitarbeitern der Jobcenter jede Möglichkeit genommen, zu den wenigen, die sich verweigern, durchzudringen und Vereinbarungen nachzuhalten. Außerdem wird der Wiedereinstieg in Arbeit desto schwieriger, je länger die Arbeitslosigkeit andauert. Nicht zuletzt wird so ein erheblicher Mehraufwand für die Jobcenter-Mitarbeiter verursacht.

Ebenso überflüssig und schädlich wäre die sog. weitere Vertrauenszeit nach den ersten sechs Monaten, in der Mitwirkungspflichten erst dann rechtlich verbindlich gestellt werden sollen, wenn Absprachen zu diesen Pflichten nicht eingehalten worden sind. Es soll also einen weiteren Freifahrtschein geben, wenn Personen sich z. B. nicht selbst um eine neue Beschäftigung bemühen, an Maßnahmen unentschuldigt nicht teilnehmen oder sich nicht auf Vermittlungsvorschläge bewerben. Das macht die Jobcenter-Mitarbeiter zu überlasteten Bittstellern um Mitwirkung und belastet dadurch auch diejenigen (Langzeit-)Arbeitslosen, um die sich die Jobcenterbeschäftigten in dieser Zeit nicht kümmern können.

Die Mitarbeiter in den Jobcentern gehen – anders als es der Gesetzentwurf suggeriert – verantwortungsbewusst mit Sanktionen um. Rund 97 % der Leistungsbezieher erhalten keine Sanktionen. Die Mehrzahl der Leistungsbezieher hält sich an die Regeln. Für die wenigen „Totalverweigerer“ müssen Sanktionen aber gerade auch in den ersten Monaten möglich bleiben. Dabei muss beachtet werden, dass von der Sanktionsdrohung an sich bereits eine Anreizfunktion zur Einhaltung bestimmter „Spielregeln“ ausgehen kann. Zudem liegt keine Bedürftigkeit vor, wenn ohne wichtigen Grund die Aufnahme einer zumutbaren Beschäftigung verweigert wird. Denn Leistungsberechtigte haben es dann selbst in der Hand, ihre Existenz durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit mit der Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Darauf hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung hingewiesen (Urteil vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, Rn. 209).

Es ist und bleibt wichtig, für eine von der Allgemeinheit finanzierte Unterstützung eine Gegenleistung der hilfebedürftigen Person zu erwarten und zu verlangen. Mehr noch als beim Arbeitslosengeld, das über vorherige Beiträge als Versicherungsleistung organisiert ist, liegt es beim Bürgergeld auch im Interesse der über Steuern finanzierenden Allgemeinheit, dass der Betroffene wieder möglichst zügig eine auskömmliche Arbeit findet. Die Mitwirkung der Leistungsbezieher kann daher nicht im eigenen Gutdünken liegen, sondern muss klar formuliert sein und dann durchgesetzt werden können. Das dient dem Einzelnen wie der steuerzahlenden Gesellschaft.

 

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Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik

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