Dr. Ortlieb: „Zwei Kernkraftwerke in Reserve zu nehmen, reicht nicht. Versorgungssicherheit und Strompreise erfordern echten Weiterbetrieb.“
2. Stresstest Stromversorgungssicherheit
Frankfurt am Main. Als „unzureichend“ wertet die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände den Plan von Bundeswirtschaftsminister Habeck, zwei der drei Kernkraftwerke bis Mitte April 2023 lediglich in eine Einsatz-Reserve zu nehmen.
„Das reicht nicht. Um die Versorgungssicherheit jederzeit zu gewährleisten und um die hohen Strompreise schneller und marktgetrieben zu senken, sollten alle drei Kernkraftwerke regulär weiter betrieben werden, bis die Energiekrise überwunden ist“, sagte Dr. Birgit Ortlieb, Vorsitzende des VhU-Energieausschusses nach der gestrigen Vorstellung des 2. Stresstests der Übertragungsnetzbetreiber. Sie rief die hessischen Bundestagsabgeordneten von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP auf, sich für eine veränderte Haltung der Ampel-Koalition einzusetzen.
Das Fazit der vier Übertragungsnetzbetreiber gestern lautete, dass die „Nutzung aller Möglichkeiten zur Erhöhung der Strom-Erzeugungs- und Transportkapazitäten dringend empfohlen wird“ und dass die „Verfügbarkeit der Kernkraftwerke ein weiterer Baustein zur Beherrschung kritischer Situationen ist“.
Konkret stellten die Netzbetreiber zur Leistungsbilanz fest: „In allen drei betrachteten Szenarien zeigt sich die Versorgungssituation im kommenden Winterhalbjahr äußerst angespannt. In Europa kann im Strommarkt die Last nicht vollständig gedeckt werden. In den beiden kritischeren Szenarien treten in einigen Stunden Lastunterdeckungen auch in Deutschland auf.“ Zur Netzsicherheit sagten sie: „Zum Management von Netzengpässen reichen die inländischen Redispatch-Potenziale in keinem der drei Szenarien aus. Es wird mindestens 5,8 Gigawatt gesichertes Potenzial im Ausland benötigt. (…) Dabei ist die tatsächliche Verfügbarkeit dieser Mengen aufgrund der in ganz Europa angespannten Versorgungslage unsicher.“
Auch laut Bundeswirtschaftsministerium zeigt der 2. Stresstest, dass „eine stundenweise krisenhafte Situation im Stromsystem im Winter 2022/2023 nicht vollständig ausgeschlossen werden“ könne. Da der Netzausbau nicht hinreichend vorangekommen sei und im Süden Erzeugungskapazitäten fehlten, könne es im Winter 2023/2022 in allen drei Szenarien zu Engpässen im Stromnetz kommen. Das Bundeswirtschaftsministerium wies darauf hin, dass zur Behebung dieser möglichen Netzengpässe Kraftwerke aus dem Ausland für das „Redispatch“ zur kurzfristigen Netzstabilisierung nötig seien, wozu auch die französischen Kernkraftwerke zählten.
Dr. Ortlieb: „Es ist unverständlich, warum bei dieser klaren Analyse der Bundeswirtschaftsminister nicht alle drei Kernkraftwerke weiter betreiben lässt, zumal wir alle mit erhöhtem Strombedarf im kommenden Winter rechnen müssen: Selbst wenn die drei Kernkraftwerke in dem „sehr kritischen Szenario“ den Bedarf am Einsatz von Kraftwerken im Ausland ‚nur‘ um 0,5 Gigawatt senken, so wäre auch das ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung unseres Stromnetzes. Zudem liegt laut Übertragungsnetzbetreibern der Beitrag der Kernkraftwerke zur Lastdeckung bei 2,5 bis 3,0 GW in den Monaten Januar bis März. Das ist sehr relevant!“
Das ‚Nein‘ des Bundeswirtschaftsministers zum regulären Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke und selbst zum Streckbetrieb sei auch eine „verpasste Chance“ zur Senkung der Strompreise. Denn wenn 4 GW Kernkraftwerksleistung im Januar 2023 vom Netz genommen würden, werde die Anzahl der Stunden, in denen teure Gaskraftwerke den Marktpreis setzten, voraussichtlich noch höher sein als gegenwärtig. „Die einzig realistische und wirksame Entlastung für deutsche Industrieunternehmen ist ein marktgetriebener Rückgang der Strompreise, denn aus staatlichen Kassen wird niemals eine nur ansatzweise ausreichende Kompensation gezahlt werden können. Die in Aussicht gestellte „Strompreisbremse“ zielt nur auf Privathaushalte und kleine Unternehmen. Sie steht selbst auf tönernen Füßen hinsichtlich ihrer Praktikabilität, ihrer Finanzierung und ihrer negativen Effekte für den Anreiz, in neue Stromerzeugungsanlagen zu investieren – egal ob in erneuerbare oder konventionelle Energien.“
Dr. Ortlieb erinnerte schließlich auch daran, dass einige europäische Partner eine verlängerte Laufzeit der deutschen Kernkraftwerke als politische Voraussetzung ansehen, um Deutschland in der Gasversorgung zu unterstützen.