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Die Viertagewoche: Verstoß gegen das Prinzip der Solidarität

Die Soziale Marktwirtschaft ist die Grundlage unseres Wohlstandes. Sie basiert auf den Werten Freiheit und Solidarität sowie auf Tugenden wie Fleiß und Eigenverantwortung. Solidarität in der Sozialen Marktwirtschaft bedeutet, dass der Starke mehr leistet, als er für sein eigenes Fortkommen müsste. Den Ertrag dieser Mehrleistung stellt er der Gesellschaft zur Verfügung, damit auch für diejenigen gesorgt ist, die weniger leisten können. Das Konzept der Viertagewoche, das für die Optimierung der persönlichen Work-Life-Balance steht und diese über die gegenseitige Übernahme von Verantwortung stellt, steht diesen Prinzipien diametral entgegen.

08.08.2024 8 Min. Lesezeit

Worum geht es? – Einleitung

Die Diskussion über die Viertagewoche ist unübersichtlich und ungeordnet, weil unterschiedliche Konzepte miteinander vermengt werden.

Die Absenkung der Arbeitszeit bei entsprechender Verringerung von Arbeitsleistung und Entlohnung ist schon heute gängige Praxis und wird allgemein als Teilzeit bezeichnet. Eine solche Viertagewoche nach dem 80:80:80 Prinzip (80% Gehalt, 80% Arbeitszeit und 80% Arbeitsleistung) ist möglich und weit verbreitet.

Auch flexible Arbeitszeiten sind in vielen Unternehmen längst gelebte Praxis. Sie ermöglichen es Arbeitnehmern, ihre Arbeit bspw. an vier Tagen zu je 10 Stunden abzuleisten, statt an fünf oder sechs. Es wäre sinnvoll, hier gesetzlich noch wesentlich mehr Flexibilität zu ermöglichen, damit Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Grundlage des betrieblich Sinnvollen individuelle und passgenaue Lösungen finden können. Die Einführungen einer Wochenarbeitszeitbetrachtung anstelle der geltenden Tagesbetrachtung wäre hier ein sinnvolles Instrument.

Weder Teilzeitarbeit noch flexible Arbeitszeiten wären neu. Insofern ist es unangebracht, diese bewährten Modelle mit der Diskussion um die „4-Tage-Woche“ zu vermengen.

Wird über „die Viertagewoche“ als Ziel diskutiert, geht es um etwas anderes: Die Absenkung der Arbeitszeit um 20% bei (vollem) Lohnausgleich; also das Prinzip ‚gleiches Geld für weniger Arbeit‘.

Fachkräftemangel und demographischer Wandel – Wir werden alle mehr arbeiten müssen

Der Fachkräftemangel ist bereits heute die harte Realität für Unternehmen in Deutschland. Er würde durch eine allgemeine Absenkung der Arbeitszeit um 20% dramatisch verschärft. Zu lösen ist er nur durch mehr – nicht weniger – Arbeit.

Im ersten Halbjahr 2024 waren bei der Bundesagentur für Arbeit im Schnitt gut 700.000 offene Stellen in Deutschland gemeldet. Die Dunkelziffer der nicht gemeldeten Stellen dürfte jedoch wesentlich höher liegen. So schätzt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), dass im ersten Quartal 2024 rund 1.700.000 Stellen unbesetzt geblieben sind.

Der demographische Wandel wird diesen Trend massiv beschleunigen. Nach Prognosen des Statistischen Bundesamtes erreichen bis 2036 rund 13 Millionen Erwerbspersonen das Renteneintrittsalter. Das entspricht circa 30% aller Erwerbspersonen. Sie werden von Beitragszahlern in die Sozialversicherungssysteme zu Leistungsempfängern. Nachkommende Generation werden diese Abnahme kaum ersetzen können. So wird die Gruppe der Erwerbspersonen bis 2060 um gut 5 Millionen schrumpfen.

Das setzt die ohnehin schon überlasteten, umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme zusätzlich unter Druck. Steigende Beiträge sind die Folge. Das macht Arbeit in Deutschland noch teurer – und sowohl für Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer unattraktiv. Dieser Teufelskreis würde durch die Einführung einer Viertagewoche massiv befeuert.

Das Gegenteil einer Viertagewoche ist nötig: Wir werden alle mehr und länger arbeiten müssen, um unseren Wohlstand zu halten und unser Sozialsystem trotz einer alternden Gesellschaft zu bewahren. Dazu muss Arbeit attraktiver werden.

Gleiche Leistung in weniger Zeit setzt Arbeitsverdichtung voraus

Die Befürworter einer Viertagewoche behaupten häufig, sie führe zu einer höheren Arbeitsproduktivität durch höhere Zufriedenheit der Mitarbeiter. So würden die Produktivitätsverluste (über-) kompensiert. Das wäre eine Produktivitätssteigerung von (mindestens) 25% Prozent.

Das ist in vielen Branchen nicht einmal theoretisch möglich: Entweder ist ein Erzieher in der Kindergartengruppe oder eben nicht. Wenn nicht, dann bleibt die KiTa zu. Es ist auch unmöglich parallel mehreren Kunden die Haare zu schneiden oder gleichzeitig mehrere Senioren bei der Nahrungsaufnahme zu unterstützen. Und auch das Schnitzel brät sich nicht von alleine, wenn der Koch einen freien Tag mehr hat.

Und selbst dort, wo ein Produktivitätssprung um 25% theoretisch möglich wäre, sollten die Folgen bedacht werden. Tatsache ist, dass die Produktivität in den letzten Jahren sogar leicht zurückgegangen ist: Laut Statistischem Bundesamt um -1% von 2015 bis 2023. Es ist absurd, anzunehmen, dass sich die Produktivität durch weniger Arbeit um 25% steigern ließe.

Im Gegenteil: Die Einführung einer Viertagewoche bei gleich bleibenden Aufgaben für die Arbeitnehmer setzt eine gewaltige Arbeitsverdichtung voraus. Der Druck auf die Arbeitnehmer wäre extrem, Ruhepausen oder Gespräche an der Kaffeemaschine kaum mehr möglich. Das würde die Innovationskraft der Unternehmen mindern. Vor allem aber würde der enorme Leistungsdruck, den eine Produktivitätssteigerung von 25% erzeugt, Arbeit unattraktiv machen.

Das zeigt: Die Viertagewoche würde alle Bemühungen konterkarieren, Arbeitsbedingungen zu verbessern und Arbeit attraktiver zu machen.

Steigerung der Attraktivität von Arbeit durch flexiblere Arbeitszeitgestaltung

Im Wettbewerb um die besten Kräfte setzen einzelne Unternehmen schon heute auf die Viertagewoche. Laut einer aktuellen ifo Studie haben 11 % der deutschen Unternehmen eine Variante der Viertagewoche eingeführt, davon 47% mit einer Stundenreduktion bei weniger Gehalt – was einem Teilzeitmodell entspricht. Nur rund ein Prozent der Befragten Unternehmen haben hingegen die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich reduziert. Das zeigt: Es handelt sich bei der Viertagewoche um eine Nischendiskussion. Der Arbeitsmarkt ist ein Markt wie jeder andere auch. Sinkt das Angebot an Arbeitskräften, steigt deren Preis. Ob man als Arbeitgeber darauf mit flexiblen Arbeitszeiten, Bonuszahlungen, anderen Benefits oder kürzeren Arbeitszeiten reagiert, unterliegt der unternehmerischen Freiheit. Klar ist jedoch, dass eine Viertagewoche nur solange einen Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt darstellt, wie sie die absolute Ausnahme ist. Dies wird durch die Aussagen der Personalleiter in der bereits erwähnten ifo-Studie untermauert. 61 % der Befragten glauben, dass die Einführung der Viertagewoche den Arbeits- und Fachkräftemangel verschärfen würde. Vor allem die Industrie ist mit 67% davon überzeugt. Nur 23% der Befragten glauben, dass die Einführung der Viertagewoche in ihrem Unternehmen den Arbeits- und Fachkräftemangel lindern könnte.

Dies zeigt, dass Arbeit auf anderem Wege attraktiver werden muss. Hier bietet die Arbeitszeitrichtlinie der EU die Möglichkeit eine Modernisierung und Flexibilisierung durchzuführen.

Familiäre Herausforderungen durch Teilzeitarbeit bewältigen

Je nach Lebenssituation brauchen Arbeitnehmer unterschiedliche Arbeitszeitmodelle. Darauf einzugehen ist gelebte Praxis in den meisten Unternehmen.

Wer ein Kind zu betreuen hat, Angehörige pflegt oder sonstige familiäre Pflichten wahrnimmt, benötigt hierfür Zeit. Wer sich dafür entscheidet, trotz dieser besonderen Aufgaben weiter zu arbeiten, wird bei den allermeisten Arbeitgebern auf Entgegenkommen treffen. Das ist auch aus Arbeitgebersicht klug, denn der Aufwand, den Familienarbeit erfordert, ändert sich je nach Alter des Kindes oder Pflegegrad des Angehörigen. Es wäre absurd, die Einführung einer Viertagewoche für alle mit den sich ständig wandelnden familiären Pflichten einiger zu begründen.

Das Gegenteil ist sinnvoll: Familienarbeit ist so individuell, dass sie nur mit größtmöglicher Flexibilität mit Erwerbsarbeit unter einen Hut zu bringen ist. Es braucht flexible Teilzeitregelungen, individuell passende Lösungen, Vertrauensarbeitszeit, flexible Ruhezeiten und Anreize, in Vollzeit zurückzukehren, wenn es die familiäre Situation wieder erlaubt.

Erst durch die Mehrleistung der Starken wird staatliche Solidarität möglich

Deutschland verdankt seinen Wohlstand und seinen außergewöhnlich starken Sozialstaat dem Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept der Sozialen Marktwirtschaft. Unsere sozialen Sicherungssysteme sind über den Generationenvertrag organisiert: In einem Umlageverfahren zahlen die Arbeitenden für diejenigen, die nicht oder nicht mehr arbeiten können. Der demographische Wandel stellt bereits die staatlich organisierte Solidarität infrage. Die Einführung einer Viertagewoche würde diesen Druck massiv verschärfen.

Die Soziale Marktwirtschaft fußt auf das Zusammenspiel von Solidarität und Eigenverantwortung. Eigenverantwortung meint, dass jeder alles in seiner Macht stehende unternimmt, um auf eigenen Beinen zu stehen. Eigenverantwortung heißt, nur dann staatliche Hilfe anzunehmen, wenn es gar nicht anders geht. Deshalb steht Eigenverantwortung auch nicht im Kontrast zu Solidarität. Sie ist die Voraussetzung für Solidarität.

Solidarität in der Sozialen Marktwirtschaft meint, dass der Starke mehr leistet als er für sein eigenes Fortkommen müsste. Den Ertrag dieser Mehrleistung stellt er der Gesellschaft zur Verfügung, damit auch für jene gesorgt ist, die weniger leisten können.

Erst durch diese Mehrleistung der Starken wird staatliche Solidarität möglich. Der Geist der Viertagewoche verstößt grundlegend gegen die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Wer die Optimierung der persönlichen Work-Life-Balance wichtiger nimmt, als die gegenseitige Übernahme von Verantwortung verstößt gegen die Gebote von Solidarität und Eigenverantwortung und legt die Axt an die Grundlagen unseres Gemeinwesens.

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