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Position zur qualifizierten Erwerbszuwanderung für Hessen

"Der Fachkräftemangel bremst die wirtschaftliche Entwicklung, nachhaltige Wohlstandsverluste drohen. Die qualifizierte Erwerbszuwanderung aus dem Ausland kann hier Abhilfe schaffen und sollte wesentlich vereinfacht, beschleunigt und ausgeweitet werden."

Aktualisiert am: 04.06.2024 8 Min. Lesezeit

Hintergrund

Ausgangslage:
Der Fachkräftebedarf in Hessen ist groß. Trotz wirtschaftlicher Unsicherheiten liegt alleine die Zahl der den hessischen Agenturen für Arbeit gemeldeten offenen Arbeitsstellen bei knapp 50.000. Regionen- und branchenübergreifend werden ausgebildete Arbeitskräfte gesucht, die Vakanzzeiten von zu besetzenden Stellen steigen signifikant. Es besteht kein Zweifel, dass die Verfügbarkeit von Fachkräften  längst die wirtschaftliche Entwicklung bremst und nachhaltige Wohlstandsverluste drohen.

Messbare Engpässe zeigen sich in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit bereits heute in 19 Berufsgruppen auf Fachkraftebene und weiteren 13 auf den höheren Qualifikationsebenen. Die Zahl an Berufen, in denen Engpässe auftreten, erhöht sich stetig, sie erstreckt sich mittlerweile auf nahezu alle Branchen - im Handwerk, in der Industrie, der IT sowie im sozial-pflegerischen Bereich. Die demographische Entwicklung in Hessen wird diese Situation perspektivisch noch weiter verschärfen: Die Zahl der Schulentlassenen wird in den kommenden Jahren stagnieren, zeitweise sogar weiter zurückgehen. Die stetig zunehmende Schulverbleibs- und Studienneigung kann zudem dazu führen, dass sich die Zahl der Interessent*innen für duale Ausbildung weiter reduzieren wird. Die Zahl der Personen aus rentennahen Jahrgängen, die in den kommenden Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden werden, wird sich hingegen deutlich erhöhen und den Ersatzbedarf an Fachkräften weiter steigen lassen. Bis 2028 prognostiziert das Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur der Goethe-Universität Frankfurt am Main (IWAK) für Hessen eine Fachkräftelücke von rund 180.000 Personen. Andere Szenarien – etwa die des IHK-Fachkräftemonitors Hessens – prognostizieren eine Lücke von 264.000 fehlenden Fachkräften im Jahr 2028. Hinzu kommt, dass das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) davon ausgeht, dass sich Stellenbesetzungsverfahren in den kommenden Jahren aufgrund bereits jetzt bestehender Fachkräfteengpässe noch weiter verlängern werden.  

Maßnahmen zur Gegensteuerung erforderlich:
Ohne aktive Gegensteuerung wird die Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter in Hessen schrumpfen. Es gilt, gemeinschaftliche Kraftanstrengungen zu unternehmen, damit die erwartbar weiter zunehmende Fachkräftelücke die wirtschaftliche Entwicklung nicht dauerhaft ausbremst, Wirtschaftswachstum behindert und Prosperität in Hessen verloren geht.
Mit diesem Thesenpapier möchten die Unterzeichner*innen den Blick insbesondere auf die Themen Internationalisierung und qualifizierte Erwerbszuwanderung aus dem Ausland richten und gemeinsame Ideen in die politische Diskussion einbringen, wohl wissend, dass es auch inländische Hebel zu stellen gilt: Aus- und Weiterbildung, Erwerbsbeteiligung von Frauen, Beschäftigung von Älteren und Menschen mit Behinderung. Da in deutschen Unternehmen allerdings nicht nur Fachkräfte, sondern zunehmend auch Arbeitskräfte fehlen, kann auch in diesem Bereich die Zuwanderung aus dem Ausland sinnvoll sein.

Im Folgenden zeigen wir unsere Lösungsansätze auf:

1. Hessen als attraktive Zielregion für zuwanderungsinteressierte Fachkräfte mit schlanken und schnellen Prozessen für Einreise und Verbleib positionieren
Ob und wie viele zuwanderungsinteressierte Fachkräfte sich für Hessen entscheiden, hängt maßgeblich davon ab, wie gut es gelingt, den Ankommenden schnellstmöglich Klarheit zu ihrem Aufenthaltsstatus zu verschaffen. Zugleich benötigen sie Informationen zum hiesigen Arbeits- und Sozialrecht. Fachkräften muss auf diesem Weg unmittelbar signalisiert werden, dass sie willkommen sind. Neben den erforderlichen administrativen Strukturen braucht es hierzu auch eine betriebliche Willkommenskultur, die es zuwandernden Fachkräften ermöglicht, sich schnell zu Hause zu fühlen und in Betrieb, Belegschaft und Gesellschaft Fuß zu fassen.
Die Ausländerbehörden müssen hierzu personell und prozessual so aufgestellt sein, dass zügige Entscheidungen – ohne Verzicht auf gesetzeskonforme Prüfung eines jeden Einzelfalls – realisiert werden können. Mögliche Verschlankungen der komplizierten Rechtsmaterie sollen im Gesetzgebungsprozess Prüfung und Berücksichtigung finden. Presseberichte, Kundenrückmeldungen und Ausführungen betroffener Vertreter*innen der Ausländerbehörden im Landesarbeitskreis Fachkräfteeinwanderungen lassen hierbei Handlungsbedarf erkennen. Hinzu kommt, dass jede/r vierte zugewanderte Ausländer*in Hessen wieder verlässt oder sogar verlassen muss, weil ausländerrechtliche Entscheidungen aufgrund enormer Terminvorläufe für eine Entscheidung nicht rechtzeitig vor Ablauf des erteilten Aufenthaltstitels möglich sind. Unsere Ideen hierzu sind:

  • Ein „Customer-Journey-Ansatz“ betrachtet die Ausgestaltung der Prozesse konsequent aus Sicht der zuwanderungsinteressierten Fachkraft. Diese Methode sollte Anwendung finden, um die Abläufe der zuständigen Behörden mittels Prozessanalysen zunächst durch Dritte untersuchen zu lassen und im Anschluss zu optimieren, um reibungslose Prozessabläufe von der jeweiligen Heimatregion nach Hessen zu gestalten.
  • Nicht zuletzt aufgrund der vorgenannten Ausrichtung auf die Erwartung der Fachkräfte, sondern auch um eine Antragsstellung aus dem Heimatland unkompliziert zu ermöglichen und die Prüfung der Qualifikationen idealerweise bereits ab diesem Zeitpunkt anzustoßen, erscheint eine durch das Land Hessen koordinierte Digitalisierungsoffensive für die hessischen Ausländerbehörden zwingend geboten. Diese würde gegenüber den Antragsstellern zudem eine vollständige Transparenz in Bezug auf den jeweiligen Bearbeitungsstand ermöglichen.
  • Die Bündelung der ausländerrechtlichen Aufgaben für das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in einer Ausländerbehörde, um ausreichend Personalressource - auch mit Fremdsprachenkompetenz - für die komplexe Rechtsmaterie vorzuhalten, wie dies bereits in fünf anderen Bundeländern erfolgreich umgesetzt wird. Vertretungssituationen und Wissenstransfer können hierdurch optimiert werden, um für die Novellierung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes mit verstärkter Zuwanderungsoption in Hessen besser aufgestellt zu sein.

2. Hessen als attraktiven Beschäftigungsort für hier ausgebildete Ausländer*innen etablieren
An hessischen Universitäten und Hochschulen werden rund 29.500 ausländische Studierende ausgebildet, die ausschließlich zu Studienzwecken nach Hessen gekommen sind; dieser Personenkreis macht ca. 12 Prozent aller in Hessen Studierenden aus. Hierdurch leistet Hessen bereits eine hohe Investition in die Qualifizierung junger Menschen, die die Fachkräftelücke verkleinern helfen können. Um dieses Potential in Hessen zu halten, sollten administrative Strukturen an Universitäten etabliert oder existierende Strukturen verbessert werden, um sicherzustellen, dass diese Fachkräfte für Hessen gewonnen werden und nicht wieder abwandern. Die reibungslose Prüfung und Erteilung eines Arbeitsmarktzugang ist hierfür eine wichtige Voraussetzung.

3. Modellprojekte für gezielte Zuwanderung nach Hessen nutzen, ausbauen, neu etablieren
Leuchtturmprojekte lösen keinen Fachkräftemangel, aber sie dienen als Ideengeber für künftige gesetzliche oder administrative Vorhaben („Hürden erkennen und abbauen“) und etablieren nachhaltige Netzwerke zwischen Unternehmen und ausländischen, für die Zuwanderung hilfreichen Partnern.
Verschiedene Institutionen wie bspw. die Zentralstelle für Auslandsvermittlung (ZAV), Auslandshandelskammern, Goethe-Institute und Botschaften sind bereits mit zuwanderungsinteressierten Fachkräften in deren jeweiligen Heimatländern in Kontakt. Es muss gelingen, über die verbesserte Beteiligung an bestehenden Projekten oder die Etablierung neuer Initiativen mehr Zuwanderungsinteressierte von Hessen zu überzeugen.

4. Reibungslosen Spracherwerb ermöglichen
Sprache ist der Schlüssel für den erfolgreichen Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sowie zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration. Integrationskurse stehen nicht flächendeckend in erforderlichem Maß zur Verfügung, Wartezeiten sind – auch bedingt durch den Zuzug geflüchteter ukrainischer Staatsbürger*innen – lang. Hierzu sehen wir – neben der grundlegenden Schaffung von Transparenz über die Verfügbarkeit von Sprachkursen – folgende Hebel:

  • In einer gemeinsamen Initiative zwischen Land Hessen, Bund und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine höhere Verfügbarkeit von Sprachkursen erreichen. Hohe Zulassungsvoraussetzungen für Lehrpersonal, aber auch weitere administrative Hürden, wie beispielsweise die bislang noch eher unzureichende Modularisierung von Integrationskursen sowie die weiterhin bestehende zwingende Kopplung des Moduls „Leben und Arbeiten in Deutschland“ an einen Sprachkursteil für das erfolgreiche Durchlaufen eines Integrationskurses, verhindern heute hinreichende Platzkapazitäten und einen schnellen Zugang zum Spracherwerb. Dies hilft zum einen zuwanderungsinteressierten Fachkräften, schneller in Unternehmen anzukommen und zum anderen auch der Gruppe der ukrainischen Geflüchteten, die sich bereits in Hessen befinden, perspektivisch in den in ihrer Heimat erlernten Berufen zügiger Fuß zu fassen. Bei Ausgestaltung und Durchführung von Sprachkursen sollte zudem stärker ein berufsspezifischer Sprachkenntniserwerb angestrebt werden.  
  • Mit Modellprojekten zum digitalen Spracherwerb vorhandene Förderlücken schließen, um ggf. auch parallel zu einer bereits erfolgten Beschäftigungsaufnahme in Randzeiten erforderliche Deutschkenntnisse weiter verbessern zu helfen.
  • Noch erfolgversprechender erscheint die Vernetzung mit Goethe-Instituten oder anderen Sprachanbietern, die zertifizierte Sprachkurse abnehmen dürfen, damit zuwanderungsinteressierte Fachkräfte bereits im Heimatland deutsche Sprachkenntnisse erwerben, die in Hessen anerkannt werden. Hiermit reduziert sich der noch nach Einreise zu leistende Spracherwerb deutlich.

5. Prozesse beruflicher Anerkennung beschleunigen
Zugewanderte Fachkräfte und deren Beschäftigungsbetriebe benötigen nach Einreise und Beschäftigungsaufnahme schnelle Klarheit über den Ausgang beruflicher Anerkennungsverfahren. Da die Prüfung in jedem Einzelfall aufwendig und umfangreich ist und auch die Prüfung informell erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten enthält, braucht es auch hier eine auskömmliche Personalausstattung in den jeweiligen Anerkennungsstellen. Folgende Ideen sollten hierbei geprüft werden:

  • Mittelfristig sollte der Anerkennungsprozess für zuwanderungswillige Fachkräfte komplett digital ablaufen. Dies würde gegenüber den Antragstellern zudem eine vollständige Transparenz in Bezug auf den jeweiligen Bearbeitungsstand ermöglichen.
  • Eine auskömmliche personelle Ausstattung der Anerkennungsstellen in reglementierten Berufen  ist zu gewährleisten, um Anerkennungsprozesse in einem vertretbaren zeitlichen Rahmen abzuwickeln und Klarheit über Anerkennung sowie ggf. noch auszugleichende Defizite zu erhalten, damit erforderliche Qualifizierungsmaßnahmen zeitnah beginnen können.
  • Eine stärkere Vernetzung mit den Auslandshandelskammern ist anzustreben, um Anerkennungsprozesse bereits im Heimatland der Zuwanderungsinteressierten anzustoßen und von einer deutlichen Prozessbeschleunigung für Hessen profitieren.

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